ERFAHRUNG
Liebe Leserinnen, liebe Leser, sind Sie schon einmal um einen Rat gebeten worden?
Ich meine nicht die Frage nach der richtigen Menge Zucker im Kuchenteig, sondern um einen echten Rat. „Was glaubst du, sollen wir heiraten?“ oder „Ich überlege, zu kündigen und bei einer anderen Firma anzufangen. Was hältst du davon?“ Nach einer solchen Bitte um Rat und Orientierung können wir uns über das Vertrauen freuen, das uns geschenkt wird, nur stellt sich doch die Frage, ob wir als ältere Menschen (und dazu zähle ich mich) überhaupt noch etwas Sinnvolles zu den wesentlichen Fragen des Lebens zu sagen haben. Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern: Ich hatte damals (aus heutiger Sicht) sehr konventionelle Vorstellungen: Meine Frau würde sich um den Haushalt und die beiden Kinder (gern zwei Jungs) kümmern, wir hätten ein Haus im Grünen gebaut, und ich hätte in einem sicheren Beruf (ich bin gelernter Bankkaufmann) für das Geld gesorgt. Wenn die Kinder dann aus dem Haus wären, hätten wir uns einen Hund angeschafft und lange Spaziergänge genossen, und selbstverständlich wären meine Frau und ich zusammen geblieben, bis der Tod uns scheidet. Ein Wechsel des Arbeitgebers war nicht vorgesehen, zumal wir aufgrund unseres Hauses ja nicht sehr mobil gewesen wären.
Ich bin als Priester sicherlich kein Experte für moderne Beziehungsformen oder die heutige Berufswelt, aber mein Eindruck ist, dass die Dinge heute etwas anders liegen. Angeblich überlegen rund die Hälfte der jungen Arbeitnehmer, noch in diesem Jahr den Arbeitgeber zu wechseln, und die Scheidungsraten sind sehr hoch; dazu leben viele Menschen ohne Trauschein zusammen, so lange, wie es eben hält. Wie soll ich denn auf diesem Hintergrund sinnvolle Ratschläge geben? Bin ich nicht völlig aus der Zeit gefallen und bestenfalls noch gefragt, wenn es um das richtige Seniorenheim geht?
Ja, ich bin nicht mehr so schnell wie früher und kann auch nicht mehr alles, aber mit der Routine, der Erfahrung und der Sicherheit eines längeren Lebens kann ich auch schwierige Situationen meistern. Ein schöner Spruch lautet: „Neue Besen kehren gut – aber die alten Besen wissen, wo der Dreck ist.“ Hier liegt meines Erachtens ein Schatz, der weit über Fachkenntnis und Zeitgeist hinausgeht. Haben wir nicht wirtschaftliche Krisen, gesellschaftliche Umbrüche und persönliche Schicksalsschläge erlebt und gemeistert? Heute leiden viele junge Menschen unter Untersicherheit und Entscheidungsdruck, da können wir mit einer gewissen Gelassenheit und Weitblick beratend zur Seite stehen. Wir können Werte wie Durchhaltevermögen, Respekt und Dankbarkeit vermitteln, und (hoffentlich) können junge Menschen aus unseren Fehlern lernen.
In einer Welt, die oft von Unsicherheit und schnellen Veränderungen geprägt ist, sind unsere Weisheit(!) und unser Erfahrungsschatz von unschätzbarem Wert. Wenn wir als Gesellschaft es schaffen, den Dialog zwischen den Generationen zu fördern, dann können wir gemeinsam eine stabile und lebenswerte Zukunft gestalten.
Text: Pater Thomas Lüersmann SDB
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