Im Gespräch mit Ulrich Sendler, Kirchenmusiker, Köln-Mülheim
IN UNSERER GEMEINDE WERDEN DIE ORGELN AM KIRCHORT LIEBFRAUEN RESTAURIERT.
WIR SPRECHEN MIT DEM KIRCHENMUSIKER ULRICH SENDLER ÜBER DIE HOFFNUNGSVOLLE
ENTWICKLUNG DER KIRCHENMUSIK.
Herr Sendler, Sie sind schon länger Kirchenmusiker. Wie würden Sie die Entwicklung, der Kirchenmusik in Deutschland oder speziell in Köln beschreiben?
Als ich Anfang der Neunzigerjahre mit dem Gedanken zu spielen begann, Kirchenmusik zu studieren, gab es in meinem Heimat-Erzbistum Paderborn neben den Dommusikern und vielleicht einem halben Dutzend Dekanats-Kirchenmusikern nur recht wenige hauptberufliche Stellen. Die meisten in der Kirchenmusik Tätigen versahen diese Aufgabe, wie z. B. mein Vater als Handwerksmeister mit eigenem Betrieb, mit wenigen Wochenstunden neben ihrem eigentlichen Beruf. Es gab zu der Zeit auch bereits Bedenken von Seiten z. B. meiner Lehrer, ob der Beruf des Kirchenmusikers in den kommenden Jahrzehnten womöglich von Stellenkürzungen betroffen sei, weshalb ich zunächst ein Lehramtsstudium aufnahm. Im Erzbistum Köln dagegen gab es traditionell sehr viele Vollzeitstellen, die Anfang der Zweitausenderjahre etwas reduziert und größtenteils neu als „Seelsorgebereichsmusiker*innen“-Stellen“ ausgestaltet wurden. Erfreulicherweise führte man dann ein paar Jahre später auch in Paderborn ein ähnliches, etwas grobmaschigeres Modell mit den „Leuchtturmstellen“ ein, um auch dort ein Netz an studierten, gut ausgebildeten Kirchenmusiker*innen zu haben, die die Teilzeitkolleg*innen fachlich betreuen, aus- und weiterbilden können. Wie im Bereich der Seelsorge waren die Kolleg*innen vor einigen Jahrzehnten vorwiegend für ‚ihren‘ Kirchturm, ‚ihre‘ Orgel und die dort ansässigen Chorgruppen verantwortlich, während wir heute im Team mehrerer Musiker*innen den ganzen Seelsorgebereich bzw. künftig die neue pastorale Einheit in den Blick nehmen. In den Jahren seit meiner Studienzeit hat auch das Singen mit Kindern in der Gemeinde stärker an Bedeutung gewonnen. Es ist heute selbstverständlicher Ausbildungsbestandteil des Studiums und in vielen Seelsorgebereichen seit längerem ein wichtiger Bestandteil für das (musikalische) Gemeindeleben und die Nachwuchsförderung.
Hat sich auch die Art der Musik, haben sich die Stile der Musik verändert?
Das würde ich bejahen, und zwar hat sich das stilistische, kirchenmusikalische Spektrum insofern verändert, als dass heute mehr als früher neben der eher ‚traditionellen‘ Kirchenmusik popularmusikalisch beeinflusste Stücke gesungen und gespielt werden. Das umfasste zunächst die Integration des sogenannten Neuen geistlichen Liedes seit dem Ende der Sechzigerjahre bis hin zu Spirituals und Gospels, geistlichen Musicals, Taizégesängen und seit einigen Jahren in manchen Gemeinden auch die Worship-(Lobpreis-)Lieder, die zunächst in den Freikirchen verbreitet waren. Daneben erfreut sich bei uns in Deutschland seit über 20 Jahren auch die englische Kirchenmusik großer Beliebtheit in den Chören mit einem jüngeren Altersdurchschnitt. Außer der Orgel kommen heute in der Kirche instrumental auch (E-)Piano und Bands zum Einsatz. Es gibt vonseiten der evangelischen Kirche erste Studiengänge mit dem Abschluss Pop-Kantor, um dieses kirchenmusikalische Genre weiter zu professionalisieren.
Warum gibt es so wenig Studenten für das Fach Kirchenmusik? Liegt es an den Rahmenbedingungen?
An erster Stelle würde ich schon den Glaubensschwund seit vielen Jahrzehnten nennen. Viele Kolleg*innen fanden zum Beruf anfänglich durch die Faszination für das Instrument Orgel, das stark – nicht völlig zu Recht, es gibt auch eine bedeutende ‚säkulare‘ Tradition als Konzertsaalorgel – mit Kirche und Liturgie verknüpft ist. Mit der abnehmenden Kirchenbindung ging so auch ein Rückgang der jungen Leute einher, die das Instrument erlernen wollen. Immer wieder neu geführte Diskussionen um die Kirchensteuer und mehr oder weniger radikale Kürzungen im Bereich der Kirchenmusik in einigen Bistümern und evangelischen Landeskirchen in den letzten Jahrzehnten haben zusätzlich dazu beigetragen, lieber andere Ausbildungsgänge anzustreben.
Tatsächlich ist die Situation aktuell so, dass es inzwischen so wenige Kirchenmusik-Studierende und Absolvent*innen gibt, dass nicht alle ausgeschriebenen Kirchenmusiker*innenstellen, vor allem auf dem Land, neu besetzt werden können. Mit einem Kombinationsstudiengang Kirchenmusik und Schulmusik, in Erinnerung an die historisch im 19. Jahrhundert verbreitete Kombination des Lehrer-Organisten, hat man in Köln von Seiten der Musikhochschule und Kirchen versucht gegenzusteuern.
Wie schätzen Sie die Zukunft der Kirchenmusik ein? Ich glaube, dass Musik in Form von Gesang und Instrumentalmusik für die christlichen Kirchen auch in Zukunft eine wichtige Bedeutung für ihre gottesdienstlichen Feiern und das Gemeindeleben haben wird. Sinnvoll scheint mir, ein möglichst breites Spektrum an Stilen und musikalischen Formen zu pflegen und der Gemeinde anzubieten. Es gibt ja einerseits eine unglaublich wertvolle Fülle an kirchenmusikalischen Werken aus vielen Jahrhunderten – Palestrina, Bach, Mozart, Mendelssohn, um nur ein paar wenige Komponisten spontan herauszugreifen –, die auch unserer Zeit ‚etwas zu sagen hat‘. Und zum anderen die eben zusätzlich genannten Stile auch zu musizieren.
Hat Kirchenmusik nicht auch einen übergeordneten Wert für die Gesellschaft und für das religiöse Leben in Deutschland?
Kirchenmusik war in der allgemeinen Musikgeschichte immer ein wichtiges Feld für musikalische (Weiter-)Entwicklung. Der kirchenmusikalische Schatz der Vergangenheit bis in die Gegenwart ist ein gewichtiges Element unserer abendländischen Kultur. Die Pflege der Werke durch die musikalischen Gruppen der christlichen Gemeinden bietet bis heute vielen Menschen allwöchentlich die Möglichkeit der aktiven musikalischen Betätigung vom Kleinkind in der Kita bis zu unseren Senioren. Das ist sicher ein wertvoller und hoffentlich ausreichend niedrigschwelliger Beitrag zur sozialen Begegnung und somit z. B. gegen das aktuell in den Fokus gerückte Problem der Einsamkeit vieler Mitglieder unserer Gesellschaft. Die Gelegenheit zu ästhetischem Lernen und zum Ausdruck durch musikalisches Tun stellt sich auch der aktuell zu beobachtenden Tendenz entgegen, dass z. B. die musischen Fächer in der Schule durch zu starke Einengung auf ökonomisch verwertbare Inhalte an Relevanz zu verlieren und aus dem Blick zu geraten drohen. Wie in der Kirche übrigens besteht auch in vielen Schulen ein Mangel an musikalischen Fachkräften, an Musiklehrern. Insofern freut es mich zu erleben, dass z. B. die Kinder unserer Kitas jede Woche neu zum Singen zu begeistern sind und die Anmeldungen in unserem Grundschul-Kinderchor „Buchfinken“ dieses Schuljahr mit ca. 50 Kindern einen Höchststand erreicht haben.
Können Sie uns etwas erzählen zur Restaurierung der Orgel in der Liebfrauen-Kirche?
Die Liebfrauenorgel hatte nach 69 Jahren Betriebszeit und kleineren Revisionen in den Neunzigerjahren eine umfassende Sanierung der technischen Anlage nötig. Mechanische Verschleißteile und die elektrische Anlage aus den Fünfzigerjahren mussten nun erneuert werden, weil die Orgel sonst in näherer Zeit nicht mehr zuverlässig spielbar gewesen wäre. Außerdem ist eine Ausreinigung aller Pfeifen in gewissen Abständen nötig, weil sonst, insbesondere bei den kleineren Pfeifen, infolge von Verschmutzung und Verstaubung keine schönen oder gar keine Töne mehr erklingen können. Zum Zeitpunkt des Baus der Orgel hatte man, jetzt etwas grob gesagt, für das angestrebte Klangprofil vorwiegend die Musik des 17., 18. und 20. Jahrhunderts im Blick. In den Neunzigerjahren hat man ein paar Register (Klangreihen) ergänzt, die auch die Orgelmusik des 19. Jahrhunderts (besser und zusätzlich) darstellen lässt. Daran anknüpfend haben wir nun noch zwei Register einbauen lassen, die auch eher meditativ-ruhige, schwebende Klänge der Musik dieser Zeit hörbar macht. Insgesamt ist die Liebfrauenorgel jetzt ein Instrument, das aufgrund seiner Größe und der Vielfalt der Register sehr viele Epochen und Stile der Orgelmusikgeschichte klanglich wiederzugeben vermag, was sicher ein Gewinn für die Gemeinde ist. Außerdem wird im technischen Bereich eine sogenannte elektronische Setzeranlage eingebaut, die es erlaubt, viele tausende Klangkombinationen der Pfeifenreihen im Voraus zu speichern und dann per Knopfdruck abzurufen. Die ersten Klangproben der wieder- und neu eingebauten Pfeifen lassen Bestes erahnen. Die Gemeinde kann sich, so glaube ich, zu Recht auf die Wiedereinweihung der Orgel mit ihrem wieder erlangten und erweiterten Klangreichtum freuen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Dieses Interview führte Martina Allisat
Fotos: Silke Grimm